Trend: Einfachheit ist wertvoll – Gigantismus und Mehrismus umgeben uns täglich

Dr. Michael Hartschen

Rund 1.420.000.000 (1,42 Mrd.) Webseiten sind nach aktueller Einschätzung online (Sommer 2018). Und täglich werden es mehr. Der weltweite Zuwachs an Wissen, Informationen und Daten ist so groß, wie noch nie zuvor in der menschlichen Geschichte. Und aktuell leben mehr Wissenschaftler, Forscher und Ingenieure auf der Erde, als bisher in der Summe zuvor gelebt haben! Die Auswirkungen daraus erfahren wir täglich. Der Zulauf an Geschäftsoptionen ist exorbitant geworden.

Online-Marktplätze wie Amazon sind in der Zwischenzeit zu Giganten gewachsen, die weit über 229 Mio. Produkte in ihrem Sortiment zählen (Stand 2016). Oder die Alibaba Group im asiatischen Raum, die im Jahr 2018 am Singles Day in einer Stunde 10 Mrd. Dollar Umsatz generiert hat. Diese Unternehmen geben über 10 Mrd. Dollar pro Jahr für Forschung und Entwicklung aus, mehr als andere Unternehmen aus der Old Economy.

Ob es technologische Entwicklungen, Innovationen oder neue Marktleistungen sind, der Newsticker rattert im Millisekundentakt mit Neuigkeiten um die Wette. Dies führt zu einer rasanten Dynamik und damit Veränderung. Das zunehmende Verlangen nach Kontinuität und Stabilität auf der Kundenseite ist daher nicht erstaunlich. Denn in der Zwischenzeit ist eine Fülle an Angeboten im privaten und geschäftlichen Bereich entstanden, die der Mensch in der Summe nicht mehr überblicken kann. Diese Zunahme an Komplexität und Kompliziertheit führt schlussendlich zu der menschlichen Sehnsucht nach Einfachheit und damit Leichtigkeit. Dies sowohl im Privaten wie auch im Business.

Einfachheit – so begehrenswert und doch so schwierig

Als Gegentrend zu diesen weitläufigen Umfeldentwicklungen werden häufig Lösungen im anderen Extrem, in diesem Fall dem Minimalismus gesucht. Die absolute und allgegenwärtige minimale Lösung und Antwort auf schwierige Fragen stehen hier im Zentrum. In der Umgangssprache wird Minimalismus mit dem Begriff der Einfachheit in Verbindung gebracht (umso weniger, umso besser). Als ein Zustand, der als perfekt, brillant und anmutig bezeichnet wird.

Im privaten Lebensalltag mag dies eine persönliche und sinngebende Antwort auf diese Entwicklung sein. Im Businessumfeld hingegen hat dies nicht die gleiche Bedeutung. Denn hier geht es nicht um den eigenen, persönlichen Fokus. Es geht zum Beispiel um Kunden, Nutzer, Angebote, Prozesse, Kommunikation oder Strukturen, die es zu gestalten gilt. All das eingebettet in die Zusammenarbeit und Organisation von Menschen. Das verlangt nach einem anderen grundsätzlichen Verständnis, um mit dieser Herausforderung umgehen zu können.

Einfachheit im Geschäftsumfeld ist zuerst einmal keine absolute Dimension. Sie ist stets als relativ in der jeweiligen Branche zu betrachten. Einfachheit in einem Bankenumfeld ist nicht das Gleiche wie im Einzelhandel oder Krankenhaus. Es gelten andere Reglements, Standards und Anforderungen. Der Wissensstand der Kunden hinsichtlich Angeboten und Prozessen oder auch Prioritäten ist gleichfalls unterschiedlich. Hier geht es nicht um die Person selbst, die Einfachheit für sich definiert, sondern um die Gestaltung für andere! Das ist eine der größten Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Dies beschäftigt aktuell die Diskussionen um neue Führungsansätze und ein neues Kundenverständnis in der Wirtschaft, wie dies zum Beispiel bei dem Thema der Agilität zu erkennen ist.

Einfachheit – das gemeinsame Verständnis ist wichtig!

Der Begriff Einfachheit ist in Unternehmen nicht klar definiert. Das ist eines der zentralen Probleme. Denn was ist schon einfach? Wie kann man sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen? Würden wir zehn Personen von zehn IT-Abteilungen von unterschiedlichen Unternehmen fragen, ob die Softwarestruktur von einem bestimmten IT-System »einfach« sei, so würden daraus wahrscheinlich zehn differenzierte Antworten resultieren. Wie lässt sich dies erklären?

Der Begriff »einfach« und wie er umgangssprachlich verwendet wird, ist nüchtern betrachtet eine Bewertung. Und zwar eine persönliche Bewertung, welche von der jeweiligen Erfahrung, dem Wissensstand und der individuellen Einschätzung der jeweiligen Person oder einer Personengruppe geprägt ist. Es spiegelt das wider, was die Person oder Gruppe meint und glaubt. Es ist daher essenziell, seine Kunden, deren Bedürfnisse und Empfindungen genauestens zu kennen.

Aus diesem Grund ist der Begriff »Einfachheit« sehr konfliktträchtig und wird doch so häufig mit richtig oder falsch verwechselt. Wenn jemand sagt, dass dies nicht einfach sei, dann stimmt dies genauso, wie wenn jemand sagt, dass es für ihn einfach ist. Es gibt hier nicht die einzige Wahrheit, nach der stets gesucht wird. Das gilt es zuerst einmal zu akzeptieren.

Wenn nun eine Gruppe ein gleiches Grundverständnis über eine Situation hat, ähnliche Erfahrungen besitzt und nach gemeinsamen Werten und Verhaltensmustern lebt und entscheidet, dann kann davon ausgegangen werden, dass eine ähnliche Bewertung stattfinden wird.

Zusammengefasst ist Einfachheit eine individuelle Bewertung, welche personen- und sachspezifisch ist und sich stets weiterentwickelt. Es gibt hier kein grundsätzliches Richtig oder Falsch. Ein Beispiel: War das Buchen eines Fluges vor 15 Jahren nur von spezialisierten Personen in Reisebüros möglich, so kann dies heute jede Person mit Internetzugang und Kreditkarte selbst von zu Hause aus erledigen. Unternehmen sollten daher bestrebt sein, den Begriff »Einfachheit« mit dem Fokus auf den Nutzer zu definieren und die Entwicklung genau zu beobachten, um den Anschluss nicht zu verpassen. Denn Einfachheit ist auch ein Leistungsversprechen, das aus Sicht des Nutzers vorgenommen wird!

Die Macht der Einfachheit

Der große Nutzen von Einfachheit liegt in der erzielbaren Wirkung. In den Fällen, in denen eine Organisation es schafft, den Nutzer oder Kunden vor einem hohen Grad an Komplexität oder Kompliziertheit zu schützen, hat sie einen zentralen Wettbewerbsvorteil. Dieses Vertrauen und diese Verbindlichkeit sind langfristig aufzubauen und zu pflegen. Der Dank dafür liegt in einer hohen Loyalität des Kunden und auch der Mitarbeitenden zum Unternehmen selbst.

Aktuelle Studien des sogenannten Global Brand Simplicity Index von Sigel & Gale zeigen ebenso den wahren Wert der Einfachheit auf. So sind zum Beispiel 63 % der Kunden bereit, für einfache Angebote mehr zu bezahlen. Noch zentraler ist die Tatsache, dass 69 % der Kunden einfache Angebote aktiv weiterempfehlen und der Aktienkurs von diesen einfachen Unternehmen die anderen Börsenindizes um ein Zigfaches übertrumpfen. Im Gegenzug ist zu erkennen, dass Kunden heute entscheiden nicht zu investieren, weil es ihnen zu kompliziert ist, obwohl sie das Kapital dafür hätten! In Deutschland werden daher Milliarden von Euro nicht ausgegeben.

Fazit

Einfachheit ist kein Werkzeug und auch keine Methode. Es ist eine gemeinsame unternehmerische Grundhaltung. Sie ist verankert in der Denkweise und Art des Handelns und Entscheidens. Diese entwickelt sich über das gemeinsame Verständnis und die jeweiligen Prioritäten immer weiter, welche in Unternehmen gelebt werden. Die Einzigartigkeit der gelebten und gestalteten Einfachheit ist so tief verankert, dass sie nicht kopiert werden kann.

Somit bestimmt die Führung einer Organisation, ob sie einfache Angebote realisiert, einfache Prozesse institutionalisiert oder einfache Strukturen aufbaut. Zu erkennen ist dies durch die klaren Rückmeldungen der Mitarbeitenden und Kunden. Hören Sie in Zukunft daher etwas genauer hin. Denn Kunden lieben die Einfachheit.

Über Dr. Michael Hartschen

Nach seinem Maschinenbaustudium in Stuttgart promovierte Michael Hartschen an der ETH Zürich über Innovationsmanagement und entdeckte schließlich sein Faible für Simplicity – sprich: Einfachheit.

Er arbeitet als Unternehmer, Coach, Trainer und Speaker im Umfeld von Einfachheit, Innovation und Unternehmensentwicklung und bringt Erfahrung aus einer Vielzahl von Branchen mit.

1998 gründete er sein erstes Unternehmen und 2001 erhielt er seinen ersten Lehrauftrag an der heutigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Zürich (ZHAW). Er ist Autor verschiedener Bücher und Fachartikel.